Die Forschungsinteressen von Christian Geyer liegen im Feld der Sozialwirtschaft und beziehen sich derzeit auf drei Themenfelder:
Organisationale Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit aus neo-institutionalistischer Perspektive
- Selbstorganisation
- Spannungsfeld Profession und Organisation
- Modelle (post-)agilen Sozialmanagements
Die UN-Behindertenrechtskonvention lenkt die fachliche und öffentliche Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der allgemeinen Menschenrechte für Menschen mit Beeinträchtigung. Inklusion bedeutet demnach: Jeder Mensch hat das Recht, selbstbestimmt an und in allen Lebensbereichen teilzuhaben. Selbstbestimmte Teilhabe setzt voraus, dass jede:r in die Entscheidungsprozesse einbezogen ist, die das eigene Leben betreffen. Nur wenn jemand mit- oder selbstbestimmen kann, realisiert sich Teilhabe. Daraus erwächst der Auftrag für soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisationen, Menschen zu stärken und zu befähigen, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Die damit einhergehende Transformation von der Fürsorge- über die Integrations- zur Inklusionslogik wird fachwissenschaftlich und professionstheoretisch reflektiert. Kaum im Fokus der Auseinandersetzung sind die Organisationen selbst, die die Orte und Rahmenbedingungen für Teilhabeleistungen darstellen.[1]
Im Index für Partizipation (BeB 2019) heißt es dazu:
„Eine partizipative Haltung ist notwendig, aber auch wenig wirkungsvoll und anstrengend, wenn sie keine Entsprechung in partizipativen Strukturen hat“ (S. 17).
Insofern bindet die Fragensammlung auch die organisationale Struktur-Dimension ein (S. 65-85). Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass diese Fragen zumeist auf eine operative Ebene abstellen und annoncieren, wo und wie Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigung in organisationalen Entscheidungsprozessen möglich und nötig ist. Darüber hinaus ist aber die Aufbauorganisation von Bedeutung, weil sich in ihr die Kultur einer Organisation widerspiegelt und auf die Haltung und das Handeln der Menschen in der Organisation wirkt.
Sofern sich ein Vertrauensgut wie die selbstbestimmte Teilhabe nicht in den Strukturen, Routinen und Prozessen konkretisiert, verwickelt sich die Organisation in Selbstwidersprüche. Entweder entkoppelt sie die Frage nach der Ordnung von den (normativen) Zielen und Erwartungen oder sie hält tradierte Ordnungssysteme für wahr und behauptet, dass z.B. eine vertikale Hierarchie als Organisations- und Führungsmodell mit selbstbestimmter Teilhabe als Organisationszweck vereinbar ist.
[1] Organisationen werden allenfalls im Hinblick auf eine Organisationskritik und De-Institutionalisierungsdebatte (vgl. Brachmann 2011, Schädler 2002, Dörner 1998) thematisch. Die von mir gewählte Herangehensweise stellt nicht das Hilfesystem als solches in Frage, sondern geht vom sozialrechtlichen Auftrag (SGB IX) aus. Das SGB IX verfolgt eine doppelte Zielbestimmung: Das Recht auf Selbstbestimmung und das Recht auf Teilhabe. Insofern frage ich nach den institutionellen und organisationalen Interdependenzen und von dort aus nach Modellen, Organisationen als ermöglichende Bedingung für Leistungen zur selbstbestimmten Teilhabe zu gestalten. Die konkrete Ausgestaltung von Leistungsarten auf der Grundlage dieser Institutionen ist nicht Gegenstand meiner Forschung.
Bevor also auf der Prozessebene nach der Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigung in Organisationen gefragt wird, lohnt es, einen Schritt zurückzutreten und kritisch zu reflektieren, welche
Organisationskonfiguration selbstbestimmte Teilhabe ermöglicht bzw. einschränkt. Und zwar deshalb, weil die Organisation die Rahmenbedingungen für die Teilhabeleistungen darstellt. Insofern spielen die Wechselwirkungen von Struktur, Kultur und Prozessen und die Interdependenz mit den institutionellen Umwelten sowie organisationalen Feldern eine gewichtige Rolle für die Realisierung von Partizipation.
Inklusion als normatives Leitbild, Rechtsanspruch und sozialpolitische Vision trägt also nicht nur das Potential in sich, professionelle Haltungen, Konzepte und Methoden zu revolutionieren, sondern auch die Hierarchien in Organisationen einer Prüfung und Neuvermessung zu unterziehen. Eine partizipative Organisationsentwicklung offenbart zunächst den Wertekonflikt zwischen Selbst- und Fremdbestimmung für alle Menschen in der Organisation (Nutzer:innen und Mitarbeiter:innen) und stört damit radikal den Status quo. Auf dieser Basis ist es die Aufgabe, Strukturen, Kulturen und Prozesse zu entwickeln, die der selbstbestimmten Teilhabe bestmöglich Raum geben.
Das Forschungsinteresse besteht darin,
(1) den Rationalitätsmythos Hierarchie als effiziente und legitime Aufbauorganisation dahingehend zu prüfen, inwiefern diese Institutionalisierung (soziale Praxis) der Institution Teilhabe entspricht (De-Institutionalisierung).
(2) das alternative Modell Selbstorganisation im Hinblick auf die Institutionen Teilhabe und Professionalität zu reflektieren (Re-Institutionalisierung).
(3) den Organisationsentwicklungsprozess eines Sozialunternehmens mit Schwerpunkt Eingliederungshilfe vor diesem theoretischen Hintergrund empirisch zu untersuchen.
Das Forschungsdesign ist im Schwerpunkt theoretisch-konzeptionell ausgerichtet. Es handelt sich um eine kritische Reflexion von Phänomenen, Rationalitäten und Erklärungen/Deutungen, die sowohl einer Prüfung als auch einer Neuvermessung unterzogen werden (hermeneutischer Ansatz). Zudem geht es bei diesem Ansatz darum, Plausibilitäten zu beschreiben und Erklärungskonstrukte zu entwickeln, z.B. durch die Systematisierung von Erkenntnissen oder die Bildung von Hypothesen.
Zudem soll mit einer empirischen Methode, der auto-ethnographischen Fallstudie, einerseits die operative Organisationsentwicklung eines Sozialunternehmens auf dem Weg in die Selbstorganisation reflektiert und andererseits nach neuen Erkenntnissen, Hypothesen gesucht werden. Die Autoethnografie (vgl. Adams et al. 2020) ist eine qualitative Forschungsmethode, die eine Annäherung an Phänomene der Praxis aus einer subjektiven Perspektive ermöglicht, die einerseits auf persönlicher Erfahrung (auto) und Erzählung (grafie) basiert, andererseits das jeweilige Phänomen dem Verstehen erschließt (ethnologisch). Der hermeneutische Prozess nutzt analytische, deskriptive oder evokative Methoden. Durch die Vernetzung der dichten Erzählung eigener Erfahrungen, Gefühle und Handlungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen werden Bedeutungen rekonstruiert oder performativ konstituiert.
Bereits erschienen ist die Studie:
Kollegiale Hierarchie in der Eingliederungshilfe. Das Organisationsmodell als Ermöglichungsbedingung selbstbestimmter Teilhabe.
In: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 19. Jg., H. 2/2021, 204-225.
Ethik der Sozialwirtschaft
- Digitalwirtschaft in der Daseinsvorsorge
- Konfessionelle Organisationen der Sozialwirtschaft (u.a. Arbeitsbeziehungen, Unternehmensethik)
Bereits erschienen sind die Studien:
Inklusive Sozial-Raum-Politik
- Sozialraumorientierung und kommunale Sozialpolitik
- Sozialraum-Management
- institutionelle Rahmenbedingungen und neue Wohlfahrtsarrangements
Bereits erschienen ist die Studie:
Inklusive Sozialraumpolitik als Aufgabe der Kommune. Herausforderungen und Konzeptbausteine aus einer gemeinwohlökonomischen Perspektive. In: Sozialer Fortschritt, 72. Jg., H. 8/2022, 513 – 530.